Die ungelesenen Worte

Sie hört das Schaben und Kratzen neben ihrem Ohr.
Sieht den Finger durch ihr schweissgetränktes Haar.
Er schreibt in den Sand, ganz ruhig und gemächlich,
Doch die Ankläger schreien und keifen verächtlich:
„Sag, Rabbi, was sollen wir mit diesem Luder machen.
In Flagranti erwischt beim Verführen und Vernaschen
von ehrbaren Bürgern, von ihren Begierden verführt.
Und nur weil dieses Weib mit ihren Reizen dies schürt.
Die Tora fordert uns auf sie zu Steinigen bis zum Tod.
Doch sag, grosser Lehrer, was ist denn dein Gebot?“

Und wieder hört sie nur das Kratzen und Schaben
von Jesu Finger, wie sich sich in die Erde graben.
Schweiss tropft in den Sand von ihrer Nasenspitze,
während alle auf Antwort warten in der Mittagshitze.
Beim Blick auf die Hand, die schreibt, wie von Donner gerührt,
fällt ihr ein Schriftwort ein, das sie zutiefst berührt:
„Siehe, in meine Hände habe ich dich gezeichnet!“
Doch wirklich sprachlos macht sie, was sich jetzt ereignet.
Jesus erhebt sich und spricht deutlich in das Zusammensein:
„Wer wirklich ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein!“

Er kniet sich wieder nieder, beginnt erneut zu schreiben,
während ihre Gedanken mit ihr Mutwillen treiben:
„Er hat recht, er hat‘s erkannt, sie sind schuldig, wie ich,
sind Heuchler und verlogen und stellen sich über mich,
doch in ihrem Herzen dienen sie nur sich – nicht Gott.
Sie halten sich für gut, sind aber geistlich bankrott.“
Ein dumpfer Schlag unterbricht den Gedankenfluss.
Bringt man sie jetzt doch noch um zum Schluss?
Werfen die Selbstgerechten doch mit ihren Steinen,
weil sie glauben, sie seien mit Gott im Reinen?

Nun poltert es immer öfter an dieser Richtstätte.
Doch kein Stein trifft sie, wie sie es erwartet hätte.
Jesus ist immer noch am Schreiben in den feinen Sand
mit seiner feingliedrigen, starken Handwerkerhand.
Er hat keine Angst selber gesteinigt zu werden,
scheint die personifizierte Ruhe zu sein auf Erden.
Sie blickt nun auf, um ihre Rivalen zu schauen.
Kann’s nicht glauben und ihren Augen nicht trauen.
Der Platz ist leer, nur Sand und ringsum Steine.
Sie ist mit dem Rabbi, der schreibt, ganz alleine.

Jesus schreibt nun nicht länger, er steht auf
Schaut rundherum und lächelnd zum Himmel hinauf.
Ihre Blicke treffen sich und sie neigt ihr Gesicht,
hört auf seine Stimme, wie er gütig spricht:
„Wo sind deine Kläger, ist niemand dein Richter?“
Sie verneint seine Frage und wieder, so spricht er:
„Auch ich richte dich nicht, du kannst nun gehen,
Sündige nicht mehr!“ Sie kann’s nicht verstehen,
wie ein Rabbi so mildtätig, so gnädig sein kann.
Ob sie das je begreifen wird – irgendwann?

Jesus verlässt nun gemächlich den Richterplatz,
Den Ort, der für sie der Inbegriff ist für Hatz.
„Kann’s sein, dass diese Güte, die ER mir erwiesen hat,
ein Beispiel ist für Jawhe’s Liebe…, trotz aller Missetat?“
Sie sieht auf die Worte, die Jesus geschrieben hatte
ein Windstoss fegt durch die Gassen und auch eine Ratte
zerstören das Schriftwerk von Jesus, geschrieben im Sand,
von seiner feingliedrigen, starken Handwerkerhand.
Nie wird jemand wissen, was an jenem, besonderen Orte
Jesus geschrieben hatte – die ungelesenen Worte.

Stefan Wanzenried / 13.05.2021

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