„Treu und Glauben“ als Ziergras?

Treu und Glauben – ein Begriff aus der Mottenkiste oder ein Affront für den Prinzipienflüchtling? Nostalgisches Ziergras in der Bundesverfassung oder gesellschafts-relevantes Dogma? Was diese Gesinnung auch immer auszeichnet – Treu und Glauben ist nur schwer fassbar.

Zweifelsohne: Ich bin weder Jurist, noch rechtskundig. Es erhebt sich lediglich eine Stimme im Land. Ein Votum, das nicht Anspruch auf Absolutheit hat und doch den Kleinkram dieser Frage nicht ausser Acht lassen will.

Den Römern war diese Haltung der Inbegriff von Loyalität und Aufrichtigkeit. Einzig die Phrase «Treu und Glauben» war nicht geboren. Die Herrscher der Antike stützten sich auf die Bona Fides, ein Terminus des römischen Rechts. Dieser beinhaltete viel mehr, als die wörtliche Übersetzung «Guter Glaube». Die Bona Fides bezeichnete aufrichtiges, verantwortungsvolles und ehrbares Handeln im juristischen und zwischenmenschlichen Sinn. Diese Sicht fasziniert uns an den Figuren von Judah Ben Hur über Maximus bis hin zu William Wallace.

Je weniger ›Treu und Glauben‹, desto mehr Gesetze, Vorschriften, desto mehr Kontrolle und Bürokratie, desto mehr Unsicherheit, Mafiosität aber auch.

© Kurt Marti

Nach diversen Debatten mit Kindern unserer Zeit bin ich davon überzeugt, dass in dieser Kultur «Treu und Glauben» ausgebootet wird, um im Meer des «gesunden Menschenverstandes» ertränkt zu werden. Doch genau betrachtet kann das Eine das andere nicht aufwiegen.

Hie und da schnappe ich Wortfetzen auf, die in etwa so lauten: «Mit gesundem Menschenverstand wäre das nicht passiert.» oder «Schon wieder eine Regulierung unserer Freiheit. Wozu haben wir gesunden Menschenverstand?» Für diese Zeitgenossen lautet Marti’s Aussage wohl so: „Je weniger ›Gesunder Menschenverstand‹, desto mehr Gesetze, Vorschriften, desto mehr Kontrolle und Bürokratie, desto mehr Unsicherheit, Mafiosität aber auch.“

Heikel empfinde ich an diesem Ausdruck das irreführende Alles und Nichts. Er ist nicht definierbar. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia versucht sich daran, aber die allwissende Dame kommt dabei ins Stottern.

Wann ist Menschenverstand gesund? Diese Frage ist so hypothetisch und fragwürdig, dass eine Erklärung per se in die Irre führen muss und allgemeiner Gültigkeit entledigt ist. Eine einfache, plakative Antwort gibt es allerdings schon: Wenn der Verstand den besten Werten unterliegt, dann agiert er gesund. Nur – welches sind die besten Werte?

Die Werte des Einzelnen generieren den individuellen «gesunden Menschenverstand». Am Beispiel von Maria und Daniel sei dies erklärt:
Maria ist die Inkarnation von «Mutter Theresa», Daniel ein Rambo, der auch mal über Leichen geht. Wenn Maria einen Notleidenden sieht, sagt ihr der «gesunde Menschenverstand», dass sie helfen muss, während der «gesunde Menschenverstand» von Daniel signalisiert «Hau ab, das könnte länger dauern, als du dir wünschst. Ihm wird schon geholfen!» Beide hören auf ihren «gesunden Menschenverstand» und die Reaktionen liegen soweit auseinander, wie Botswana von Hawaii.

Zur Subjektivität der Redewendung hält Wikipedia fest: „Oft wird „gesunder Menschenverstand“ als Phrase missbraucht. Die Unart, sich fälschlich auf ihn zu berufen, hat stark zu seiner Abwertung beigetragen.“

Weiter wird ergänzt: „Der Begriff enthält viele fundamentale Widersprüche: Er bezeichnet sowohl eine Fähigkeit als auch ein Wissen, fungiert als Wahrheitssinn, ist aber auch leicht fehlbar, gilt mal als kritisch, mal als konservativ, stellt ein wichtiges Vorverständnis dar, neigt aber auch zum Vorurteil. Ein Gewinn ist sein Gebrauch vor allem dort, wo er sich auskennt.“

Ein anderer Gesichtspunkt nistete sich in meine Gedanken ein, als ich diese Zeilen las. Meine persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung hat Zugriff auf meinen ach so «gesunden Menschenverstand». Wenn ich einen Gewinn aus einer Situation schlagen kann, egal welcher Natur, laufe ich Gefahr den gesunden Menschenverstand dem Gewinnstreben anzugleichen.

Ob ich die Steuererklärung mit «gesundem Menschenverstand» ausfülle und dabei darauf achte, nur soweit über die Grenzen des Legalen zu tappen, dass ich beim Auffliegen der Schummelei maximal als deliquenter Kavalier dastehe oder ob ich meinen Steuerpflichten nach «Treu und Glauben» nachkomme und mit bestem Wissen und Gewissen die Steuerformulare ausfülle, sind zwei paar Schuhe.

Während der gesunde Menschenverstand aus den genannten Gründen angreifbar ist, hat «Treu und Glauben» einen unangefochtenen Status. Treue ist nicht verhandelbar. Die Wortkreationen «am treusten» oder «treuer» gehören dem Hyperlativ, also der regelwidrigen Komparationsform, an. Treue ist nicht steiger- oder minderbar. Treu ist treu, was im weiteren Sinn auch ehrlich sein heisst. Bin ich jemandem gegenüber treu, belüge ich ihn nicht. Wenn ich nicht ehrlich bin, breche ich die Treue dadurch, dass ich den guten Glauben in mich, die Bona Fides, verrate.

Das Wort Glauben umfasst gute Werte wie Vertrauen oder Hingabe. Wenn ich an eine Sache glaube, weiss ich, dass sie mich einem Ziel näherbringt. Wenn ich jemandem glaube, vertraue ich auf seine Loyalität und Ehrlichkeit. Somit ist «Treu und Glauben» nicht verhandelbar.

«Treu und Glauben» kann mit «gesundem Menschenverstand» nicht definiert werden. «Gesunder Menschenverstand» mit «Treu und Glauben» schon eher.

Das Ausfüllen der Steuererklärung nach «Treu und Glauben» erfordert von mir eine Hingabe an die Ehrlichkeit. Wenn ich nach der Pflichterledigung das Couvert genüsslich schliesse und dem Steueramt zukommen lasse, muss sich gleichzeitig ein Gefühl der Vertrauenswürdigkeit in mir breit machen, weil ich nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe.

Denn mal ehrlich: Hälst du es für Recht, wenn wir solche Schlagzeilen lesen?

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ZTreun und Glauben: Zeitungsbericht Dr. Schiwago veruntreute 7 Millionen Franken Steuergelder

Solches können nur jene gutheissen, die es bereits tun.

Betrug, wie auch loyales und ehrliches Handeln, fängt im Kleinen an und wächst mit unserer Verantwortung. Aus dem Kavaliersdelikt wird ein Kapitalverbrechen.

Dieses Zitat von C.S. Lewis trifft den Nagel auf den Kopf:

So dreht sich der Teufelkreis immer weiter. Gutes und Böses vermehren sich mit Zinseszinsen. Deshalb sind die kleinen Entscheidungen, die sie und ich Tag für Tag treffen, von so unendlich grosser Bedeutung.

C.S. Lewis aus „Pardon, ich bin Christ“

Der «gesunde Menschenverstand» ist kein verlässlicher Partner. Einzig, wenn der Menschenverstand «Treu und Glauben» unterstellt wird, könnte man von gesundem Menschenverstand reden.

Nein – «Treu und Glauben» ist kein Ziergras.

Oder hast du eine eigene Definition von „Treu und Glauben“?

Kommentar hinterlassen? Danke!

von Anders Noren.

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