Nancy war ausser sich. Wieder hatte er es getan. Ihr Mann Lukas kam heim, begrüsste sie mit einem Kuss und einer festen Umarmung. Doch als sie von ihrem Tag zu erzählen begann, was alles gut und schief gelaufen war, legte er ohne Ankündigung sanft seine Hand über ihren Mund und sagte im Flüsterton: „Lass mich zuerst heimkommen.“ Dann verschwand er in seinem Arbeitszimmer.
Nancy war ausser sich. Wieder hatte er es getan.
Dabei hatte sie gehofft, in aller Ruhe mit ihm ein paar Dinge zu besprechen, waren die Kinder doch an einer Geburtstagsparty. Was war los mit ihm? Seit sie umgezogen waren, gab es vermehrt solche Momente und es beschlich sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Vieles musste sie ohne ihn entscheiden. Andererseits entschied er Dinge für sich, ohne sie zu fragen. Dann fühlte sie sich nutzlos und übergangen. Sie war kein Mitspieler mehr in seinem Leben – in ihrem Dreamteam von anno dazumal.
Doch dann geht die Türe nach ein bis zwei Stunden wieder auf und der alte Lukas Emmenegger, der Mann, den sie geheiratet hat, ist wieder da. Sie kann mit ihm über alles plaudern und übersieht, wie früher, jene kurzen Spannungsmomente, wenn er im Gespräch nachfragen muss, was sie gerade gesagt hat, weil er in Gedanken abwesend war.
Was Nancy und Lukas noch nicht wissen: Lukas ist introvertiert.
Was Nancy und Lukas noch nicht wissen: Lukas ist introvertiert. Wie geht man damit um, wenn der Partner oder ein Arbeitskollege introvertiert ist? Gibt es Tricks, sie oder ihn zum Sprechen zu bringen? Was sollte vermieden werden im Umgang mit Introvertierten? Wie bringt man sie zum Sprechen? Diesen Fragen wollen wir nachgehen.
Zuerst sollte Ihnen, lieber Leser, klar sein, wer hier schreibt. Ich bin selbst introvertiert und weiss aus erster Hand, wie ich denke und fühle. Trotzdem kann ich nicht auf Anhieb alle meine Gedanken einordnen. Seit ich weiss und dazu stehe, dass ich introvertiert bin, geht dies allerdings wesentlich besser. Und darin liegt ein Schlüssel für die Betroffenen und ihr Umfeld. Wenn die Introversion eines Partners oder Arbeitskollegen als gegeben angenommen und akzeptiert wird, und zwar von beiden Seiten, kann ein Zusammenleben und eine Zusammenarbeit neue Qualität gewinnen.
So sagte mir kürzlich meine Frau, dass ihr das neue Wissen um meine Introversion und die für mich benötigten Rückzugsmomente ihr immer wieder helfen, meine Reaktionen und Bedürfnisse zu verstehen und richtig einzuordnen. Sie hat verstanden, dass meine Einsiedlermomente nicht eine Abwendung von ihr sind, sondern eine Zuwendung zu meinem Innern und dem Erlebten. Im Alleinsein muss es sortiert und verarbeitet werden, bevor es vielleicht mit einem Gegenüber besprochen werden kann. Ein Arbeitskollege erzählte mir letzthin Ähnliches. Seit er um meine Introvertiertheit wisse, könne er meine Reaktionen viel besser einschätzen.
Aber wie kommt man an die Verschwiegenheit eines „Insichgekehrten“ ran? Wie bringt man sie oder ihn zum Reden? Und wie erlangt man seine Meinung zu einem Thema? Reicht ein „Sag doch einmal auch etwas dazu!“?
Aber wie kommt man an die Verschwiegenheit eines „Insichgekehrten“ ran?
Diese Frage habe ich Debora Sommer gestellt. Sie ist Autorin des Buches „Die leisen Weltveränderer“ (SCM-Verlag) und eine gefragte Referentin zu den Themen Introversion und Hochsensibilität. Sie meint dazu:
„Ich kann nicht für alle Introvertierten sprechen, aber was mich betrifft, bin ich dankbar, wenn ich eine gedankliche „Vorlaufzeit“ habe. Wenn eine Frage in die Runde geworfen wird, fällt es mir schwer, auf Knopfdruck zu antworten. Zu viele Dinge müssen überlegt und durchdacht werden. Es ist nicht meine Art, oberflächliche Gedanken mitzuteilen.“
Unsere vielfach auf Extroversion getrimmten Meetings und Schulungen verlangen aber vielfach genau das von Introvertierten – und das fällt uns allen schwer. Weiter sagt Debora Sommer:
„Fordert man mich in einem Meeting also mit den Worten auf „Sag doch auch einmal etwas dazu!?“, dann könnte es sein, dass ich sage: „Ich brauche noch einen Moment, um meine Gedanken zu sortieren, aber ich höre aufmerksam zu.““
Wie kann man denn nun einen Introvertierten um seine Meinung bitten? Debora Sommer:
„Die Frage könnte man sehr viel einladender stellen. Z. B. „Und was sind deine Gedanken zu diesem Thema?“ oder „Was bewegt dich im Zusammenhang mit dem, was wir bis jetzt diskutiert haben?“ Bei einer solchen Fragestellung fühle ich mich als Person ernst genommen.“
Weiter macht Debora Sommer klar, dass sich Introvertierte sehr gern mitteilen, wenn die Vorbedingungen stimmen:
„Introvertierte sind nicht grundsätzlich abgeneigt, ihre Gedanken mit anderen zu teilen. Sie möchten einfach möglichst vorbereitet sein. Wenn man wissen möchte, was Introvertierte denken, kann es hilfreich sein, ihnen Vorlaufzeit zum Denken einzuräumen.“
Das könnte heissen, eine Fragestellung vor der Zusammenkunft schon bekannt zu geben oder im Meeting eine Denkpause einzulegen, wo jeder seine Gedanken zu Papier bringen kann. Im privaten Rahmen kann man die Frage stellen: „Gibt es etwas, das du mir erzählen willst?“ Ganz ohne Erwartung und Zeitdruck.
Doch es gibt noch mindestens einen Faktor um die Gesprächigkeit eines introvertierten Gegenübers zu erhöhen: Leidenschaft.
Ich habe festgestellt, dass es Leute in meinem Umfeld gibt, die mich ganz und gar nicht introvertiert einschätzen, was mich immer wieder erstaunt. Meistens kennen diese Personen mich von einem Treffen oder einer Tätigkeit her, wo ich leidenschaftlich war oder wofür ich mich leidenschaftlich einsetze. Leidenschaft setzt bei Introvertierten Worte frei.
Finde heraus, wofür sich dein introvertiertes Gegenüber leidenschaftlich interessiert.
Debora Sommer
Es deckt sich mit dem Rat von Debora Sommer an Extrovertierte:
„Extrovertierten Personen rate ich daher oft: Finde heraus, wofür sich dein introvertiertes Gegenüber leidenschaftlich interessiert, und du wirst erstaunt sein, wie gesprächig Introvertierte sein können.“
Ich merke gerade, dass Sie jetzt, lieber Leser, an eine konkrete Person in ihrem Umfeld denken. Was macht sie leidenschaftlich gern? Oder was vermuten Sie, dass er leidenschaftlich gerne macht? Fragen Sie ihn oder sie doch einfach beim nächsten Treffen danach. Und auch sie werden erstaunt sein.
Haben Sie Ähnliches mit Ihren Mitmenschen erlebt, von dem Sie nun vermuten, dass er/sie auch introvertiert sind? Lassen Sie es mich wissen mit einem Kommentar.
Stefan Wanzenried / 13. April 2022
Danke Stefan. Du sprichst mir aus dem Herzen.
Das freut mich natürlich!😊
Lieber Stefan
Sehr schön und hilfreich formuliert… fast eine Gebrauchsanweisung… danke
Das wäre der Idealfall! Danke dir für deine Einschätzung.