Sicherheitsrückruf für Introvertierte

Er begrüsste mich mit dem Ausruf: „Kommen Sie mit mir mit. Heute mache ich den Barista!“ Ich schmunzelte und folgte ihm ohne Widerrede. Dass meine Introversion heute gefordert würde, darauf war ich vorbereitet, war ich doch schon einige Male in ähnlichen Verkaufslokalen des schwedisch-chinesischen Autohändlers – und immer wollen sie dir ein neues Fahrzeug verkaufen.

Ich hatte für mein Fahrzeug kürzlich die Erinnerung erhalten, dass sie mich schon vor einem halben Jahr darauf aufmerksam gemacht hätten, den Sicherheitsgurt auf der Fahrerseite überprüfen zu lassen. Es handle sich um den Sicherheitsrückruf R10029. Bei einer routinemässigen Kontrolle dieser Modelle wurde ein mögliches, wenn auch unwahrscheinliches Verschleiss-Sicherheitsrisiko festgestellt, das durch einen Wechsel der Gurtbefestigung behoben werden könnte. Jede offizielle Volvo-Vertretung würde dies kostenlos und anstandslos durchführen. Ein kurzes Mail in die nächstgelegene Volvo-Garage bestätigte mir, dass ich nach einer Viertelstunde das Auto wieder in Empfang nehmen könne. Termin gebucht und heute diesen wahrgenommen.

Ich fahre meine Autos meistens tot.

Kaum hatte ich meinen Autoschlüssel am Tresen abgegeben, wurde ich gefragt, ob ich einen Kaffee trinken wolle, während ich warte. Ich bejahte und schon kam ein untersetzter glatzköpfiger Herr auf mich zugesteuert, fast gerannt, und rief mir zu: „Kommen Sie mit mir mit. Heute mache ich den Barista!“ Ich schmunzelte und folgte ihm ohne Widerrede. „Bei uns können Sie alles haben!“ Und schon hatte er mich zum besten Schokoladen-Eis am Stiel überredet. So sass ich mit meinem quasselnden Gastgeber im hellen Verkaufsraum, in dem die neusten elektrischen Modelle der Nobelmarke ausgestellt waren. Kein Barista mit Milchschaum, aber ein Espresso dampfte vor mir. In einer der wenigen Sprechpausen versuchte ich ihm anzudeuten, dass ich nicht an einem Kauf eines neuen Wagens interessiert sei. „Ich fahre meine Autos meistens tot.“ Es folgte eine – auffallend lange – Pause und das gab mir die Möglichkeit anzufügen: „Zudem bin ich viel im Holz. Mit Motorsäge und anderen schweren Werkzeugen unterwegs… und da wäre es doch schade, wenn man einen so tollen Wagen dafür beansprucht.“

Volvo XC40 Recharge
Volvo XC40 Recharge

Mein Argument schien nicht zu verfangen und er erzählte von seinem Kollegen, dem Förster, der auch viel im Holz ist und trotzdem einen E-Volvo sein Eigen nennt. Er zeigte mir Videos, die er für seine Kunden gedreht hatte, um das Argument, dass es zu wenig Ladestationen in der Schweiz gab, die zudem immer besetzt seien, entkräfteten. Und diese Garage hätte die modernste und schnellste Ladestation meines Wohnkantons und dafür hätten sie Fr. 80000.- investiert. Er führte aus, dass es ökonomischer Blödsinn sei, heutzutage ein Auto zu kaufen. Leasen sei das Gebot der Stunde. „Ich weiss, unsere beiden Väter haben uns noch anders erzogen. Uns wurde gesagt, dass man erst ein Auto kauft und dann fährt. Leasen? Nie und nimmer!“

Ich will Sie überhaupt nicht zu einem Kauf überreden!

Ich staunte nicht schlecht, mit welcher Inbrunst er mir Verkaufsargumente für diesen Wagen oder jenes Feature an den Kopf klatschte. Und immer wieder betonte er: „Ich will Sie überhaupt nicht zu einem Kauf überreden!“ Was er allerdings nicht wissen konnte: Ich hörte nur halbherzig seinen Ausführungen zu. Nicht weil es mich nicht interessiert hätte, sondern weil ich introvertiert bin. Meine Wahrnehmung richtete sich auf seine Ambitionen aus, die mir offensichtlich nur das Beste bringen wollten. Ich achtete auf seine Gestik, wenn er mir seine Videos zeigte und ich überlegte mir, wie er sich wohl bei der Aussage fühlen musste, wenn er mich anschwindelte: „Alle anderen lügen Sie an!“

Doch irgendwie genoss ich die Zeit. Ich setzte mich sogar in eine seiner schicken Karossen, frage mich allerdings gerade, ob ich das mir oder ihm zuliebe gemacht habe. Ich liess mir von ihm die schön grosse Ladefläche zeigen. Er hatte offenbar schon realisiert, worauf ich bei einem neuen Auto Wert lege.

Dann stand der Spielverderber vor mir.

Dann stand der Spielverderber vor mir und streckte mir meinen Autoschlüssel entgegen: „Ihr Auto ist bereit!“ Der überaus freundliche Mechaniker wandte sich ab und das Gespräch mit meinem extrovertierten Verkäufer nahm ebenfalls eine Wendung. Nun hatte ich einen Grund Adieu zu sagen. Die eingangs versprochene Viertelstunde war sowieso schon auf eine halbe Stunde ausgedehnt worden. Doch es war eine kurzweilige halbe Stunde.

Warum eigentlich? Und warum habe ich die Zeit genossen? Ich denke, dass es an meiner Einstellung gelegen hat. Ich wusste, was auf mich zukam und lehnte es nicht ab, sondern begab mich als Introvertierter und introviert Handelnder in diese Situation. Was bleibt ist Dankbarkeit.

Danke, liebe Extrovertierte, für euren Enthusiasmus und eure Begeisterung, die ihr versucht und versteht rüberzubringen. Und danke, dass ich das nicht tun muss! Ich darf so bleiben wie ich bin und wir ergänzen uns so herrlich. Ein Sicherheitsrückruf für einen Introvertierten, wie mich, hat durchaus sein Gutes!

Und wer weiss? Vielleicht kaufe ich meinen nächsten totzufahrenden Volvo beim Barista!

Hattest du ähnliche Erlebnisse? Oder warst du als Extrovertierter erstaunt, wie gewisse Leute entusiastisch auf deine Verkaufsargumente reagieren, während andere eine kühle Gelassenheit an den Tag legen?

Dann lass es mich unten in einem Kommentar wissen. Danke.

Stefan Wanzenried / 04. Mai 2022

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